Alles fast ein bisschen viel auf einmal
Unabhängiger Journalismus ist das Kernprodukt der Medienhäuser und Verlage / Wird es gelingen, ihn weiter zu finanzieren? / Der Weg ist weit und duldet keine Kompromisse
Von Manfred Sauerer
Die Diskussion um die Zukunft des Produkts Zeitung läuft schon seit Jahren. Aber das Thema geht viel tiefer. Denn jenseits der gedruckten Zeitung, deren Geschäftsmodell heute schon verblasst ist angesichts veränderter Mediennutzung, exorbitanter Papierpreise und einer kaum mehr zu finanzierenden Zustellung, geht es nicht weniger als um die Zukunft des unabhängigen Journalismus überhaupt. Diese Entwicklung trifft zuerst die privatwirtschaftliche Presse, während der öffentlich-rechtliche Bereich quasi als letzte Bastion verbleiben würde – solange die Gesellschaft den Rundfunk-Beitrag akzeptiert.
Schwindende Erlöse im gedruckten Blatt können nicht dauerhaft mit jährlichen Preiserhöhungen ausgeglichen werden. Bei der Mehrheit der Zeitungsverlage in Deutschland hat sich diese Erkenntnis durchgesetzt. Das Print-Anzeigengeschäft ist ohnehin schon seit vielen Jahren unter Druck, sind doch Rubriken wie Immobilien, Fahrzeuge und Stellen längst mehrheitlich ins Internet abgewandert und auch Geschäftsanzeigen schwinden, wenn Auflagen ständig sinken.
Bleibt für die Verlage also nur die konsequente Transformation ins digitale Geschäft. Dort gibt es die Möglichkeit, ein aus der alten Print-Welt kopiertes Reichweiten-Modell zu betreiben. Journalistische Inhalte werden dabei in der Regel kostenlos angeboten, während Werbungsflächen einen gewissen Vorrang in puncto Platzierung erhalten. Die Webseite wird dabei über die Besuche bzw. Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer vermarktet. Um dies erfolgreich zu gestalten, braucht es aber eine gewisse Größe, die nur Verlagsgruppen oder -Verbünde aufweisen. Ferner läuft man Gefahr, sich aufgrund vieler Unterbrechungen durch Anzeigen den Unmut der Leser zuzuziehen.
Die Mehrheit der Verlage, zumal wenn sie unabhängig und autark bleiben möchten, werden dagegen auf ein Abo-Modell im Digitalen bauen. Dabei braucht man den Mut, trotz der beschriebenen schwierigen Rahmenbedingungen in Technologie und Knowhow sowie nicht zuletzt auch in Personal zu investieren, ohne dass der sogenannte Return on Invest sofort einsetzt.
Unabhängiger Journalismus ist das Kernprodukt des Verlags – was sollte es sonst anderes auch sein? Nicht nachvollziehbar also, warum dieses Kernprodukt in seiner Online-Fassung plötzlich kostenlos abgegeben werden sollte. Der Inhalt hat seinen Preis und muss bezahlt werden, im Fachjargon „Paid Content“. Wie aber überzeugt man Leserinnen und Leser, für den Zugang zu allen Inhalten auf der Nachrichtenwebsite eine Abo-Gebühr zu bezahlen? Das Modell „Wundertüte“ oder „Gießkanne“ wie beim Massenmedium Zeitung wird hier nicht funktionieren.
Es geht also darum, Vorlieben und Bedürfnisse der Lese-Kunden zu verstehen und die redaktionelle Qualität danach auszurichten. All das funktioniert nicht ohne die erwähnten Investitionen in Technologie und Menschen. Trotz aller Datenschutzrichtlinien muss es gelingen, aus dem Nutzungsverhalten der interessierten Website-Besucher per Datenanalyse Erkenntnisse zu destillieren, die wiederum auf Themenplanungen, Ausspielzeiten und digitale Sonderformate wie Videos, Podcasts oder interaktive Grafiken Einfluss nehmen.
All diese Erkenntnisse führen im Idealfall zu einem beinahe personalisierten Angebot für jede Leserin und jeden Leser, die aufgrund vieler Erkenntnisse über ihr Nutzungsverhalten eben nicht nur ihre drei, vier favorisierten Themenvorschläge erhalten, sondern auch die immer wieder erwähnten und ersehnten Überraschungseffekte. Erst dann wird das Angebot, für das man zahlen soll, als wirklich wertig betrachtet.
Um so etwas hinzubekommen, braucht es den Einsatz zahlreicher technologischer Werkzeuge, für die erhobenen riesigen Datenmengen viel Platz auf externen Speichern, den Clouds, und natürlich spezialisierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Schließlich müssen Organisationsformen eingeführt werden, die in traditionellen Verlagen bisher nicht bekannt waren. Teams aus verschiedenen Bereichen wie Redaktion, Datenanalyse, Lesermarkt (Vertrieb) und Anzeigenmarkt arbeiten an ständigen Anpassungen und Verbesserungen des Angebots, unterstützt eben von einem Technologie-Paket, das in die Lage versetzt worden ist, selbstständig richtige Entscheidungen zu treffen, wenn es etwa darum geht, einer bestimmten Zielgruppe weitere inhaltliche Empfehlungen zu geben. Dadurch verlängert sich die Verweildauer der Nutzerinnen und Nutzer und erhöht sich natürlich die Zufriedenheit mit dem Produkt.
Die angesprochenen interdisziplinären Teams verfolgen eine agile Arbeitsweise, das heißt, sie setzen sich autonom Ziele und versuchen, diese durch maßgeschneiderte Prozesse und den Einsatz von Technologie zu erreichen. Ein wichtiger Fokus ist dabei stetiges Lernen und die Fähigkeit, die Arbeit an sich ändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Hierarchie spielt dabei so gut wie keine Rolle, die Vorgehensweise aber muss bis hinauf zur Geschäftsführung anerkannt, unterstützt und vorgelebt werden.
Der Verlag der Zukunft hat dabei an mehreren Fronten zu kämpfen. Gute Datenanalysten, Informatiker, Data-Wissenschaftler, aber auch souveräne Verantwortliche für das Produkt Website oder für Zusatzangebote wie etwa Newsletter sind schwer zu finden. Und solche Mitarbeiter kommen dann auch nur, wenn der künftige Arbeitgeber eine transparente und gut kommunizierte Strategie hat, mit der er die Herausforderungen der Zukunft zu lösen gedenkt.
Nachwuchsprobleme machen sich bereits jetzt deutlich bemerkbar. Das Volontariat, die Ausbildung zum Redakteur, hat beispielsweise erkennbar an Strahlkraft verloren. 80 Prozent der Zeitungsverlage beklagen je zur Hälfte einen leichten bzw. starken Rückgang an Bewerbungen im Vergleich zu den Vorjahren. Das ist das Ergebnis einer Umfrage unter Ausbildungsredakteuren von Jule, der „Initiative junge Leser“ des Bundesverbands der Digitalpublisher und Zeitungsverleger. Wer heute in seinen Zwanzigern ist, möchte einen Arbeitgeber, der Handlungsspielräume gibt, Vertrauen vorschießt und Anerkennung für Geleistetes zollt.
Keine Frage, dass es nicht zuletzt auf die jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ankommt, wenn man an das Medienhaus der Zukunft denkt. Wer sonst als diejenigen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, die selbstverständlich die sozialen Netzwerke nutzen und bedienen und die genau wissen, wie man Inhalte für junge Menschen aufbereiten muss, wer sonst sollte den Boden dafür bereiten, dass auch künftige Alterskohorten an journalistische Produkte herangeführt werden? Wer dies nicht im Blick hat, läuft Gefahr, den Umsatzverlust durch schwindendes Print-Geschäft nicht mehr auffangen zu können. Die Folge wäre eine weitere Medienkonzentration und damit der Verlust der Vielfalt, den unser Grundgesetz in Artikel 5 eigentlich einfordert.
Ob es gelingt, den unabhängigen Journalismus im Digitalen zu finanzieren, ist bei aller Anstrengung nicht ausgemacht. „Warum ist das für mich wichtig? Was hat das mit meinem Leben zu tun?“ Das fragen sich laut Leibnitz-Institut für Medienforschung in Hamburg (Hans-Bredow-Institut) rund 50 Prozent der Teenager in Deutschland. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von „Nachrichtenvermeidung“, das heißt, die jungen Leute interessieren sich nicht (mehr) für das, was Ihnen die professionellen Medien mitteilen möchten. Die anderen 50 Prozent sind theoretisch noch ansprechbar, erwarten jedoch eine Aufbereitung, die ihren Gewohnheiten entspricht. Denn es gibt nicht DIE junge Zielgruppe, die Nachrichtenorientierung ist zwischen, aber auch innerhalb von Altersgruppen unterschiedlich.
Es gilt also, schon da anzusetzen, wo eine gewohnte Mediennutzung noch gar nicht beginnt. Denn all das ist nicht nur für die Verlage mit ihren Abo- und Werbemärkten eine Gefahr, sondern sogar für unsere demokratische Grundordnung. Gegensteuern möchte hier die Initiative #UseTheNews, die die Deutsche Presse-Agentur zusammen mit führenden Partnern der Medien und der Forschung des erwähnten Hans-Bredow-Instituts 2020 aus der Taufe gehoben hat. Inzwischen hat #UseTheNews den Status einer gemeinnützigen GmbH mit dem dpa-Mann Meinolf Ellers als Geschäftsführer, im Lenkungskreis arbeiten unter anderem Funke-Verlegerin Julia Becker und Kai Gniffke, Intendant des Sudwestrundfunks SWR.
#UseTheNews will Nachrichtenutzung und Nachrichtenkompetenz speziell unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen fördern. Daher ist neben Forschung (Studien, Umfragen) und Praxis (maßgeschneiderte Nachrichtenangebote für die Jungen auf Basis der Studien-Daten in Medienhäusern) auch die Bildung im Fokus. Bei #UseTheNews heißt das ONE (Open News Education). Darin werden Bildungsangebote, Unterrichtsmaterialien und Fortbildungen für Lehrkräfte entwickelt, um die Vermittlung von Nachrichtenkompetenz in den Schulen zu stärken. Es geht um sicheres Navigieren durch den Nachrichtendschungel, aber auch um konkrete Anwendungen, wenn etwa Schüler in Zusammenarbeit mit dem ansässigen Medienhaus eine lokale Tagesschau (in Österreich ZiB) in 100 Sekunden produzieren.
Es sind große Aufgaben, die dem unabhängigen Journalismus und damit den Medienhäusern und Verlagen bevorstehen. Fast ein bisschen viel auf einmal. Aber am Ende entscheiden die Leserinnen und Leser, ob sie den kostenpflichtigen Medien weiter eine Existenz ermöglichen. Der Weg ist beschwerlich, aber wer sich aufmacht, ihn zu beschreiten, sollte sich an den Rat aus dem Haus Schibsted halten. Der Medienriese mit Sitz in Oslo ist im digitalen Geschäftsmodell ziemlich erfolgreich unterwegs und weiß aus Erfahrung: „Don’t compromise“ – keine Kompromisse!